Anspruch und Wirklichkeit im Sozialen klaffen auseinander
„Die EU wirkt auf eine soziale Marktwirtschaft hin.“ So steht es seit 2009 im Europäischen Vertragswerk. Doch es ist nach wie vor gelebte Wirklichkeit, dass sich die EU in einer offenen Marktwirtschaft befindet, die vom Binnenmarkt und dessen Freiheiten geprägt ist.
Die Europäischen Verträge sehen den Menschen nach wie vor eher als ökonomisches denn als soziales Wesen. Europa ist immer noch ein Marktprojekt, in dem das Soziale nur hilfsweise zum Zuge kommt.
Europa muss also vom Kopf auf die Füße gestellt werden! Der Mensch muss im Mittelpunkt stehen; die Wirtschaft muss zum Wohle der Menschen agieren. Nur so kann ein weiteres gesellschaftliches Auseinanderdriften verhindert und Zusammenhalt gelebt werden.
Die EU muss sozialer Gerechtigkeit den gleichen Stellenwert einräumen wie der Marktfreiheit
Nach nun mehr als drei Generationen ihrer Existenz muss die EU endlich erwachsen werden und die bisherige Überbetonung des Marktes und der Unternehmen verringern. Der soziale Ausgleich und die Weiterentwicklung des Europäischen Sozialmodells sind die wichtigsten Aufgaben der kommenden fünf Jahre.
Wenn Europa es mit dem Sozialen wirklich ernst meint, reichen seine bisherigen Mittel nicht aus. Zwar wurden in der Vergangenheit sozialpolitische Querschnittsklauseln, beschäftigungspolitische Vorschriften und ein Europäischer Sozialfonds (der den Regeln nach eher ein Beschäftigungsfonds ist) erstritten. Aber das ist nicht genug, wir brauchen ein echtes soziales Europa.
„Soziales Europa“ heißt nicht europäischer Sozialstaat. Es braucht nicht die eine Sozialversicherung, in die alle Europäerinnen und Europäer einzahlen. Aber die EU muss den Nationalstaaten ermöglichen ihre Sozialpolitik auszubauen und zu verbessern. In der Vergangenheit hat die EU eher zum Rückbau der Sozialstaatlichkeit beigetragen – besonders in den Ländern, die unter dem Druck der Kürzungspolitik der internationalen Banken und Kreditgeber agieren mussten.
Wir brauchen eine starke europäische Säule sozialer Rechte – und überall in Europa soziale Mindeststandards
Abgesehen vom Rechtsrahmen wird politisch seitens der EU seit ein paar Jahren aber ein größerer Fokus auf Soziales gelegt. Selbst der scheidende Kommissionspräsident Juncker kam zu der Einsicht: „Europa ist nicht sozial genug.“.
Ein erster richtiger Schritt zu einem neuen Europäischen Sozialmodell wurde mit der Proklamation der Säule sozialer Rechte Ende 2017 unternommen. Sie ist in die drei Kategorien „Chancengleichheit und Arbeitsmarktzugang“, „faire Arbeitsbedingungen“ und „Sozialschutz und soziale Inklusion“ untergliedert.
Die Säule bildet eine Art Bezugsrahmen für die Bewertung der Leistung der Mitgliedstaaten im Sozial- und Beschäftigungsbereich und soll die Reformprozesse auf mitgliedstaatlicher Ebene vorantreiben; allerdings ohne die in den Verträgen enthaltenen Kompetenzen zu erweitern!
Folglich kann sie nur ein Zwischenschritt auf dem Weg zu einem echten sozialen Europa sein. Dazu muss die Soziale Säule mit echter Gesetzgebung unterlegt werden. Wir brauchen soziale Mindeststandards in jedem Land, gesichert durch die EU. Es braucht noch mehr: einen Stabilitätspakt für das Soziale, der dafür sorgt, dass kein Sozialdumping betrieben wird. Warum soll es einen Schutzschirm für Banken geben, aber nicht für Menschen?
Es ist an der Zeit, ein Europa zu schaffen, in dem der soziale Zusammenhalt den Leitmaßstab darstellt!